Fallkonferenzen

Die Organisation und Durchführung von Fallkonferenzen

- ein Leitfaden

 

Ulrich Binner, Karlheinz Ortmann, Ralf-Bruno Zimmermann, Jenny Zirnstein

 

Einführung

Die folgenden Ausführungen basieren auf unseren Erfahrungen mit der Organisation und Durchführung von Fallkonferenzen im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung[1] geförderten Projekts „Entwicklung und Etablierung der sektorenübergreifenden Versorgung älterer Menschen nach einem Krankenhausaufenthalt in Potsdam“ (2009 bis 2012).

Wir gehen datenbasiert davon aus, dass es keine einfachen Anleitungen zum „richtigen“ Handeln in Praxisfeldern geben kann, in denen humane Dienstleistungen (Human Services) erbracht werden. Praxis stellt sich dort vielmehr als ein komplexes prozessuales Geschehen dar, in dem die Beteiligten Probleme und Unterstützungsbedarfe erkennen und Problemlösungen fortwährend verhandeln und aushandeln müssen. Nach einem solchen Verständnis kann die bestmögliche Hilfe dann erbracht werden, wenn im Hilfeprozess zwischen den Beteiligten reflektiert und überprüft wird, welche Bedarfe tatsächlich bestehen, ob die Beteiligten sich verstehen, ob Hilfen angemessen sind, wo Übereinstimmungen und Abweichungen bestehen und wo und wie ggf. entsprechende Korrekturen vorgenommen werden müssen. Eine sektorenübergreifende Versorgung und Unterstützung, die angesichts der vielfach komplexen Problemlagen hilfebedürftiger Menschen wünschenswert ist, lässt sich nach diesem Verständnis von Praxis nicht anordnen, sondern vielmehr fallweise im Dialog (bzw. Multilog) zwischen den beteiligten informellen und professionellen Helfern entwickeln.

Insofern ist ein Fall mehr als der Klient/Patient[2] und sein(e) Problem(e). Ein Fall besteht vielmehr aus dem Klienten/Patienten und seiner Problemlage sowie aus dem Helfer und seinen Lösungsvorschlägen in einem bestimmten Kontext. Der Fall ist als eine Situation zu verstehen, in der professionelle und informelle Helfer handeln müssen. Professionelle und informelle Helfer sind damit immer auch Teil des Falles. Die Helfer werden selbstbeobachtend und selbstreflexiv in den Fall einbezogen (Pantucek 1998).

Mit diesem Leitfaden möchten wir ganz konkrete Hinweise geben, wie Fallkonferenzen durchgeführt werden und worauf dabei zu achten ist. Wir wünschen uns, dass die Nutzer dieses Leitfadens uns ihre Erfahrungen mitteilen, die wir wiederum gerne nutzen möchten, um das Konzept weiterzuentwickeln.

Wozu dienen Fallkonferenzen?

Fallkonferenzen dienen dazu, die an einem Fall beteiligten professionellen und informellen Helfer zusammenzuführen, um fallbezogen über Problemstellungen zu beraten. Ziel ist es, Vorschläge zur Problemlösung zu erarbeiten, konkrete Umsetzungsmöglichkeiten zu eröffnen und den Prozess im Verlauf kritisch zu reflektieren. Im Detail geht es um

  • die fallbezogene Beschreibung und Analyse von Versorgungs- und Unterstützungssituationen
  • die fallbezogene Identifizierung und Benennung von Versorgungs- und Unterstützungsproblemen
  • die fallbezogene Initiierung von Verbesserungen
  • die fallbezogene Reflektion erreichter Veränderungen
  • fallübergreifende Anregungen für die Verbesserung von Versorgung (in einem Gemeinwesen, einer Region)

Wie wird eine Fallkonferenz initiiert und organisiert?

Eine Einrichtung/Abteilung/Gruppe/Person übernimmt die Initiierung und Organisation der Fallkonferenzen. Dafür eignen sich insbesondere Einrichtungen mit einem übergeordneten Handlungsauftrag, etwa Pflegestützpunkte, regionale Arbeitsgruppen und Netzwerke oder Hochschulen, da sie nicht direkt als Leistungserbringer tätig sind und nicht in „Verdacht“ geraten, sich profilieren zu wollen. Natürlich können auch direkte Leistungserbringer Fallkonferenzen durchführen, dann bietet es sich aber an, dass die Organisation im Wechsel mit anderen Anbietern durchgeführt wird.

Folgende Schritte werden zur Initiierung einer Fallkonferenz benötigt:

  1. Alle (sozialen, medizinischen, pflegerischen[3]) Institutionen in einer bestimmten Region werden darüber informiert, dass eine Fallkonferenz installiert werden soll. Sinn und Zweck werden kurz erläutert und für Rückfragen sollte eine Person benannt werden, die per Telefon und/oder E-Mail erreichbar ist.
  2. Es geht eine Bitte an möglichst alle (sozialen, medizinischen, pflegerischen) Institutionen in einer Region, konkrete Fälle vorzuschlagen. Um anfangs das Interesse zu wecken, kann die einladende Institution auch einen Fall modellhaft vorstellen und beraten lassen.
  3. Es muss ein Raum vorhanden sein, der etwa 20 Personen Platz bietet und über eine Ausstattung verfügt, um einen Fall angemessen vorstellen und beraten zu können (etwa Flip Chart, Tafel, Beamer…).
  4. Ein geeigneter Moderator muss gefunden werden (dazu weiter unten mehr).
  5. Wenn zu einer konkreten Fallkonferenz eingeladen wird, muss allen angeschriebenen Institutionen und Personen kurz mitgeteilt werden, worum es im zu beratenden Fall geht (zum Datenschutz siehe weiter unten). Damit fühlen sich Institutionen und Personen mehr oder weniger angesprochen und können besser entscheiden, ob sich eine Teilnahme aus ihrer Sicht lohnt. Personen und Institutionen, die am Fall beteiligt sind, können ggf. noch zusätzlich angerufen oder angesprochen werden, damit sie teilnehmen.

Wie wird ein Fall vorgestellt?

Die Fallvorstellung erfolgt mündlich durch eine vorab benannte Person aus der Praxis, die in dem vorzustellenden Fall hinreichend involviert ist und bereit ist, ihn vorzustellen. Folgende Vorgaben sind hilfreich, um einen Fall strukturiert vorzustellen:

1. Vorstellung der Person um die es geht (hierzu ausführlicher Anlage 1)

  • biographische Angaben
  • somatische und psychische Funktionen und Beeinträchtigungen
  • soziale Situation (z.B. Familie, Finanzen, Soziale Unterstützung, Teilhabe)

2. Verlauf der bisherigen Versorgung/Behandlung/Beratung und die im Fallverlauf aufgetretenen Veränderungen (Besserungen, Verschlechterungen, Abbrüche, Wiederholungen):

  • ambulante ärztliche Behandlungen, Krankenhausaufenthalte
  • Reha-Maßnahmen
  • Pflege
  • Psychotherapeutische Behandlungen
  • Soziale Sicherung/Unterstützung

3. Aktuelle Versorgungssituation zum Zeitpunkt der Fallkonferenz

4. Fallbezogene Probleme und Ressourcen sowie konkrete Fragestellungen

Wie läuft eine Fallkonferenz ab?

Eine Fallkonferenz soll zeitlich auf etwa 90 Minuten begrenzt sein. Ein vorgegebener und strukturierter Zeitrahmen soll dazu beitragen, dass der Fall ergebnisorientiert beraten wird. Idealerweise sieht der Ablauf wie folgt aus: 

  • Begrüßung und kurze Vorstellung der Teilnehmer
  • Vorstellung eines Falles aus biopsychosozialer Perspektive anhand der o.g. Struktur von einer Person, die in den Fall involviert ist (ca. 15 Minuten)
  • Diskussion der benannten Probleme, Entwicklung von Lösungsansätzen, Erarbeitung von konkreten Handlungsstrategien (ca. 45 Minuten)
  • Benennung konkreter Ziele, Handlungsschritte, Aufgabenverteilung (ca. 20 Minuten)
  • Wenn es sich um eine Fallkonferenz handelt, der bereits eine Fallkonferenz vorausgegangen ist, soll geprüft werden, ob die früher getroffenen Verabredungen eingehalten worden sind und wie der Verlauf zu bewerten ist (ca. 10 Minuten). Wenn es dabei Probleme gab, kann eine Wiedervorlage des Falles sinnvoll sein.
  • Die Ergebnisse der Diskussion und die Vorschläge zur Umsetzung werden protokolliert und Interessenten zugänglich gemacht (Datenschutz muss beachtet werden).

Es ist natürlich auch möglich, von diesem Schema abzuweichen, wenn es die Situation erfordert. So könnte eine Fallkonferenz auch von Zeit zu Zeit genutzt werden, um fallübergreifend über Möglichkeiten zur Verbesserung der regionalen Versorgung zu beraten.

Wer kann eine Fallkonferenz moderieren?

Moderatoren von Fallkonferenzen sollten nicht direkt in den zu beratenden Fall involviert sein. Der Moderator sollte idealerweise Erfahrungen in der Leitung von Gruppen und gruppendynamische/systemische Kenntnisse haben.

Er muss vor allem der Lage sein, für eine konstruktive und wertschätzende Kommunikation zwischen den Anwesenden zu sorgen. Er muss ein Gesprächsklima schaffen, in dem sich Personen geschützt fühlen. Dies gilt insbesondere für die Personen, die Fälle vorstellen bzw. in den Fall involviert sind. Hier ist besonders darauf zu achten, dass seitens der Anwesenden keine Schuld- oder Fehlerzuweisungen erfolgen oder die Qualifikationen der Personen angezweifelt werden.

Die Beratung des Falles erfolgt grundsätzlich auf die Zukunft gerichtet und lösungsorientiert. Es soll also nicht allzu viel Energie auf die Frage: „Wie ist es dazu gekommen?“ verwendet werden, sondern eher gefragt werden: „Wie kann das Problem so gelöst werden, dass die Versorgung bzw. Unterstützung einer Person zukünftig besser funktioniert?“

Wie viele Personen können an einer Fallkonferenz teilnehmen?

Es gibt noch keine Erfahrungen mit einer „idealen“ Teilnehmerzahl. Fallkonferenzen können aber mit einer geringen Anzahl an Teilnehmern (< 10 TN) ebenso durchgeführt werden, wie mit vielen Teilnehmern (>20). Wenn viele Teilnehmer erscheinen, muss die Struktur der Fallkonferenz angepasst werden (etwa, in dem die Teilnehmer aufgeteilt werden in die Gruppe der am Fall „direkt Beteiligten“ und die Gruppe der „Interessierten“ ,wobei die am Fall Beteiligten den Fall primär beraten.

Ideal ist es, wenn sich an der Konferenz Personen aus unterschiedlichen Berufsgruppen (interprofessionell) und unterschiedlichen Institutionen (interinstitutionell) beteiligen, weil dann die unterschiedlichen Sicht- und Handlungsweisen deutlich werden und die wünschenswerte Kommunikation zwischen verschiedenen Berufsgruppen und verschiedenen Institutionen entstehen kann.

Wie oft sollen Fallkonferenzen stattfinden?

Es gibt noch keine Erfahrungen mit der idealen Häufigkeit von Fallkonferenzen. Dennoch kann gesagt werden, dass Fallkonferenzen nicht in einem zu dichten Abstand – etwa wöchentlich – stattfinden sollen. Zum einen ist ein zeitlicher Abstand nötig, damit Erfahrungen mit den erarbeiteten Lösungsvorschlägen gesammelt werden können. Zum anderen könnte das zur Folge haben, dass Institutionen und Personen nicht (mehr) teilnehmen können, weil deren zeitlichen und personellen Ressourcen knapp sind.

Für den Anfang sollte ein größerer Zeitabstand (ein bis zwei Monate) gewählt werden, um Erfahrungen zu sammeln, wie groß das Interesse ist. Bei Erfolg und Bedarf kann der Zeitabstand dann verkürzt werden.

Welche Fälle können vorgestellt und beraten werden?

Unsere Erfahrungen beziehen sich auf Fälle im Kontext ambulanter und stationärer medizinischer Versorgung und Pflege und es gab unsererseits keinerlei Vorgaben, die Fälle ausgeschlossen hätten. Eine problemspezifische Vorgehensweise ist aber durchaus denkbar. Es kann ja sinnvoll sein, Fälle zu beraten, in denen die Versorgung und Unterstützung von Menschen mit einer bestimmten Erkrankung oder in einer bestimmten sozialen Lage im Mittelpunkt steht. Bei einem solchen Vorgehen werden fallübergreifende Aspekte wahrscheinlich schneller deutlich.

Datenschutz

Der Datenschutz ist durchgängig zu beachten. Der Klient/Patient muss seine (schriftliche) Einwilligung geben, dass über ihn beraten werden darf. In der Anlage 2 befindet sich der von uns verwendete Vordruck, auf dem Patienten/Klienten ihr Einverständnis erklären.

Kontakt:

Prof. Dr. Karlheinz Ortmann

karlheinz.ortmann@khsb-berlin.de

Diese Leitlinien (inkl. Anlagen) können sie als druckbares pdf Dokument bei Klick auf DOWNLOAD runterladen.

 

[1] Gefördert vom BMBF im Rahmen des Demografie-Schwerpunktes: Forschung an Fachhochschulen für die alternde Gesellschaft  „Soziale Innovationen für Lebensqualität im Alter“ (SILQUA-FH) (Förderkennzeichen: 17S09X09).

[2] Im Text wird aus Gründen der Lesbarkeit nur die männliche Form verwendet. Gemeint sind aber immer männliche und weibliche Personen. 

[3] Welche Einrichtungen angeschrieben werden, hängt jeweils von der primären Problemstellung ab, die Anlass sind, um eine Fallkonferenz zu installieren